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“Es ist ein vorgeschobenes Argument, um die Untätigkeit zu legitimieren.”
Reinhold Hedtke und Mahir Gökbudak haben herausgearbeitet, dass Politische Bildung an deutschen Schulen deutlich schwächer vertreten ist als die Vergleichsfächer Geschichte und Geografie. Laut dem Bildungsministerium Thüringen ist das kein Problem, da genau in diesen Fächern ebenfalls Politische Bildung vermittelt wird. “Es ist ein vorgeschobenes Argument, um die Untätigkeit zu legitimieren”, sagt Reinhold Hedtke dazu. Reinhold Hedtke war bei Hertz 87.9 zu Gast und hat über das Ranking Politische Bildung 2018 (Universität Bielefeld) zu sprechen.
Becker: Politische Bildung ist deutschlandweit schwach ausgeprägt und in manchen Ländern noch schwächer. Das wäre meine Interpretation des Rankings Politische Bildung 2018. Mahir Gökbudak und Prof. Dr. Reinhold Hedtke von der Uni Bielefeld haben in ihrem Ranking die Unterschiede und die allgemeine Ausgeprägtheit von Politischer Bildung für die Sekundarstufe I im Ländervergleich dokumentiert. Ich freue mich jetzt, Prof. Dr. Reinhold Hedtke bei mir im Studio zu haben, um mehr über das Ranking zu sprechen. Hallo Herr Hedtke. Schön, dass sie da sind.
Hedtke: Schönen guten Morgen.
Becker: Herr Hedtke, der Median für die Politische Bildung in der Sekundarstufe I, liegt bundesweit bei nur 2,2 Prozent. Bayern liegt mit 0,8 Prozent ganz hinten und Schleswig-Holstein mit 3,9 Prozent ganz vorne. Aber egal, welche Zahl ich mir jetzt angucke, selbst knapp 4 Prozent erscheinen mir als relativ geringer Wert, wenn man bedenkt, was für einen Einfluss die Politik – oder auch die Wirtschaft – auf unser Alltagsleben hat. Was würden Sie sagen. Reichen 4 Prozent denn überhaupt aus?
Hedtke: Also ich würde sagen, aus unserer Studie heraus kann man nicht direkt beantworten, ob das ausreicht oder nicht; aber wir würden sagen, aus dem, was wir aus der Wissenschaft über Politische Bildung wissen, kommt es auf zwei Dinge an. Es kommt darauf an, dass politische Bildung an den Schulen möglichst früh anfängt, also nicht erst in Klasse 9 oder 10, wie das in manchen Bundesländern der Fall ist. Und es kommt darauf an, dass sie kontinuierlich stattfindet, weil die Kinder und Jugendlichen Zeit brauchen, ihre politischen Orientierungen zu entwickeln – zu überlegen, was sind eigentliche meine Ziele?, worauf kommt es mir an?, zu verstehen, wie das politische System funktioniert, so dass wir sagen: 4 Prozent ist die absolute Untergrenze, denn 4 Prozent bedeutet für die Sekundarstufe I im Wesentlichen mehr oder weniger eine Stunde pro Woche. Also 45 Minuten Politik pro Woche – und das ist immer noch sehr wenig.
Becker: Und das ja, wenn man das jetzt ab der fünften Klasse rechnet.
Hedtke: Wenn man das ab der fünften Klasse machen würde, dann wäre das tatsächlich sechs Jahre lang pro Woche 45 Minuten. Das sind 4 Prozent ungefähr.
Becker: Und normal, wenn man berechnet, dass Sport – natürlich, junge Menschen sollten fit bleiben – aber, dass da oft zwei, drei, auch vier Wochenstunden für investiert werden, ist das schon ein sehr geringer Wert. Das Ganze ist ja jetzt eine quantitative Analyse, das haben Sie ja gerade schon gesagt. Das heißt, es misst die relative Bedeutung des Leitfaches der Politischen Bildung und wie viel Lernzeit ihr zugemessen wird. Über die inhaltliche Umsetzung lässt sich hier nichts direkt sagen. Sie selbst haben ja den Hintergrund als Schullehrer, sie kennen den Unterricht. Würden Sie sagen, dass die Politische Bildung überhaupt verbessert würde, wenn man nur die Stundenzahl verändert oder müsste allgemein auch die inhaltliche Umsetzung verändern?
Hedtke: Also ich glaube, dass man nicht sagen, dass generell die inhaltliche Umsetzung, die Praxis der politischen Bildung an Schulen, schlecht ist. Sie ist natürlich, wie jeder Unterricht und jedes Schulfach, verbesserungswürdig. Aber, Sie haben recht: Wenn man einfach nur mehr Stunden hergibt, ist es nicht gleich deswegen besserer Unterricht. Das größte Problem, was unsere Studie offengelegt hat – in einem anderen Zusammenhang für Nordrhein-Westfalen – ist, dass Politische Bildung normalerweise von Lehrkräften unterrichtet wird, die dafür nicht ausgebildet worden sind. Normalerweise heißt: Viel häufiger als andere Fächer. Wir haben zum Beispiel in NRW jede vierte Politikstunde am Gymnasium, die von Lehrkräften unterrichtet wird, die niemals Sozialwissenschaften oder Politik studiert haben; wir haben an Realschulen und Gesamtschulen zweidrittel des gesamten Unterrichts, der von fachfremden Lehrkräften unterrichtet wird. Das ist natürlich nicht in jedem Einzelfall ein Problem für die Qualität. Selbstverständlich passiert auch da guter Unterricht, aber im Durschnitt muss man damit rechnen, dass die Lehrkräfte nicht so gut unterrichten, wie die die ausgebildet wurden.
Becker: Was würden Sie sagen: Liegt da die Ursache bei den Schulen, da sie einfach nicht das ausgebildete Lehrpersonal einstellen oder gibt es allgemein einfach zu wenig ausgebildete Lehrkräfte in diesen Bereichen?
Hedtke: Ich glaube es trifft Beides zu. Zum einen könnte man natürlich mehr ausgebildete Sozialwissenschaftslehrkräfte gebrauchen, zum anderen liegt es im Wesentlichen in der Entscheidung der Schulen. Und zwar auf zweifache Art und Weise: Zum einen sind die Schulen ja heute in der Lage und haben das Recht Lehrkräfte einzustellen. Das heißt: die Schulleitung entscheidet letztlich welche Fächerkombinationen sie einstellt. Und dann nimmt man schon mal lieber einen Sportlehrer oder einen Physiklehrer – das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, glaube ich, eher Stundenplantechnischer Natur, weil man natürlich in vielen Fällen einen Lehrkräfte – Fachlehrkräfte, muss man genauer sagen – -mangel hat. Und dann sagen sich manche – einfach, weil sie es nicht besser wissen, nicht unbedingt aus schlechten Motiven heraus – Politik, das kann doch jeder, der einigermaßen gut informiert ist und Zeitung liest. Und genau das ist falsch – das geht nicht. Politik unterrichten ist mindestens so anspruchsvoll zu unterrichten wie Physik oder Sport. Von daher liegt, glaube ich, der Hauptgrund bei der Einsatzplanung und bei Einstellungspolitik der Schulleitungen. Aber es wären ja die Bezirksregierungen, die die Aufgabe hätten, die Qualität des Unterrichts zu kontrollieren und sie müssten eben intervenieren bei Schulen, die überwiegend über einen längeren Zeitraum hinweg fachfremden Unterricht praktizieren.
Becker: Und diese Intervention bleibt dann bis dato einfach aus?
Hedtke: Die Daten liegen vor. Das heißt, das Kultusministerium weiß sehr genau – damit auch die Bezirksregierungen –, wie viel fachfremder Unterricht in der Sekundarstufe I erteilt wird. Nach Schulform genau können sie es zurückverfolgen – bis zur einzelnen Schule –, aber sie haben es bis jetzt nicht als ihre Aufgabe betrachtet, hier für eine Steigerung der Unterrichtsqualität zu sorgen.
Becker: Kommen wir mal zu einem etwas anderen Teil der Studie, die Sie jetzt gemacht haben. Sie haben im Vergleich zu dem Vorjahr die Fächer Geografie und Geschichte mit in einen Teil Ihres Rankings reingenommen, um das Leitfach Politische Bildung mit Nachbarfächern zu vergleichen. Mit wenigen Ausnahmen wie Schleswig-Holstein, Bremen, Berlin oder Hessen, hatte das Leitfach Politische Bildung eine schwache Stellung in der Stundentafelquote, also dem Stundenplan. Jetzt kam zum Beispiel aus dem Bildungsministerium Thüringen die Kritik, dass Politische Bildung auch in genau diesen Fächern, also Geschichte und Geografie, stattfindet. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Hedtke: Also erstmal war unser empirischer Befund überraschend – auch für uns –, dass es eine so große quantitative Distanz zwischen dem Leitfach der Politischen Bildung und Geschichte einerseits gibt, bis zum Faktor 9 – neunmal mehr Geschichte als Politik; und zum Fach Geografie bis zu achtmal mehr Geografie als Politik. Das hat uns überrascht. Wir haben schon gedacht, dass Geografie und Geschichte stärker sind, aber nicht so stark. Der zweite Punkt ist, dieses Argument politische Bildung fände ja auch in allen Fächern statt – politische Bildung sei sogar eine Aufgabe aller Lehrkräfte und der Schule insgesamt, weil die ja demokratische Denkweisen und Haltungen vermitteln müsse – ist ja nicht falsch. Das Interessante ist nur, dass dieses Argument immer angewendet wird, wenn kritisiert wird, dass es zu wenig politische Bildung gibt. Denn man könnte ja – wenn das Argument wirklich gelten würde – sagen: in allen Schulfächern wird gelesen, gesprochen, geschrieben, also kürzen wir Deutsch auf zwei Stunden die Woche. Weil, es passiert ja überall: Jede Lehrkraft ist dafür verantwortlich, dass richtig geschrieben wird, dass stilistisch gut geschrieben wird. Das heißt, die Verantwortung für die deutsche Sprache ist in allen Fächern eine Verantwortung der ganzen Schule. Alle würden den Bildungsminister für verrückt erklären der sagt, zwei Stunden die Woche Deutsch würden reichen, weil überall geredet, gesprochen und gelesen wird. Dasselbe gilt für Politik. Es ist ein vorgeschobenes Argument, um die Untätigkeit zu legitimieren.
Becker: Kommen wir mal zu einem anderen Aspekt der Politischen Bildung. Würden Sie denn sagen, dass durch eine erhöhte politische Bildung an Schulen das Interesse an Politik in der Gesellschaft zukunftsperspektivisch stark erhöht werden könnte?
Hedtke: Wir wissen sehr genau, dass schon Kinder im Alter von 10, 11, 12 Jahren sich für Politik interessieren, dass sie Politik gut einschätzen können. Wir wissen sehr genau, dass das politische Interesse dadurch steigt, dass man sich mit politischen Themen auseinandersetzt. Wir wissen, dass das Interesse steigt, wenn man sich über einen längeren Zeitraum hin damit auseinandersetzt. Wir wissen, dass in der heutigen Gesellschaft die Schule – und auch in der Schule der Politikunterricht – eigentlich der einzige Ort ist, wo sich die ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen verständigen können: In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?, was sind die zentralen Probleme die angegangen werden sollten?, wie wollen wir unsere Zukunft politisch gestalten? Und wir wissen, dass das Elternhaus eine große Rolle spielt, aber der Ausgleich zum Elternhaus nur in der Schule stattfinden kann. Und wenn man jetzt als letztes Argument noch hinzunimmt, dass sich das politische Interesse, das Interesse daran zu partizipieren – sich politisch einzubringen – und auch die politischen Grundorientierungen ungefähr abgeschlossen sind, wenn man die Schule verlässt – also mit 18, 19, 20 – und danach das für das ganze Leben weitertransportiert wird und sich nicht mehr viel ändert – dann kann man sagen: die Schule hat schon eine ziemlich große Bedeutung für die Politische Bildung.
Becker: Ich werte das mal – zusammengefasst – als kurzes ja. Ein großer Teil ihrer Studie war ja auch der Ländervergleich. Die Unterschiede der Länder sind ja schon recht groß. Was würden Sie denn sagen, sollten Bildungsentscheidungen in dem Fall der Politischen Bildung – oder der Bildung allgemein vielleicht – nicht auf Landesebene, sondern auf Bundesebene gefällt werden, um die Unterschiede zwischen den Ländern aufzuheben?
Hedtke: Da bin ich skeptisch. Also, weil ich glaube, dass wir uns im Bildungssystem nicht nur Diversität und Vielfalt in den Schulen leisten können, sondern dass wir uns das leisten müssen, solange wir nicht wissen, was denn das beste Modell ist. Und das wissen wir nicht. Dann arbeitet man besser mit unterschiedlichen Modellen. Insofern finde ich die Länderautonomie bei Bildungsfragen und bei den Stundentafeln und bei den Curricula, den Lehrplänen gar nicht falsch. Was man überlegen muss, ist: die Länder übernehmen ja eine Verantwortung für die Ausbildung der demokratischen Bürgerinnen und des demokratischen Bürgers für die ganze Republik. Wir leben ja in einer Demokratie auch auf Bundesebene. Und da finde ich, kann es nicht sein, dass Länder wie Bayern, Thüringen, aber auch Berlin und Rheinland-Pfalz diese Aufgabe nicht wahrnehmen, sondern ganz, ganz wenige Stunden Politikunterricht nur machen, während andere Länder diese Aufgabe eher ordentlich wahrnehmen und mehr Stunden zur Verfügung stellen. Hier könnte ich mir vorstellen: Wir brauchen Mindeststandards für die Politische Bildung. So ein Mindeststandard könnte sein: zum Beispiel durchgängig in allen Klassen Politik unterrichten in der Sekundarstufe I und mit mindestens eine Stunde pro Woche auf die ganze Sekundarstufe I gerechnet. Das könnte ich mir gut vorstellen. Das wäre eine Aufgabe der Kultusministerkonferenz, sich auf Mindeststandards für die Politische Bildung zu einigen.
Becker: Also nur eine ganz kleine Intervention so gesehen in die Bildung der Länder?
Hedtke: Genau, es wären die Rahmenbedingungen. Was ich nicht begrüßen würde, wäre wenn man die Lehrpläne vereinheitlichen würde. Da steht schon in vielen Fällen was ähnliches drin; also das Politische System, das Ökonomische System der Bundesrepublik und so weiter, aber ich sehe jetzt erstmal keinen Grund zu sagen: wir brauchen einen bundeseinheitlichen Lehrplan Demokratie, Bildung oder Politik.
Becker: Also keine Vereinheitlichung auf Bundesebene. Das Ranking Politische Bildung 2018, dokumentiert von Mahir Gökbudak und Prof. Dr. Reinhold Hedtke, wurde vergangene Woche von der Universität Bielefeld veröffentlicht. Prof. Dr. Reinhold Hedtke war bei Hertz 87.9 im Studio, um über das Ranking und dessen Auswirkungen zu sprechen. Falls ihr da draußen euch das Ranking nochmal genauer anschauen wollt: nach der Sendung findet ihr das Interview auch noch als Podcast auf unserer Website und da findet ihr auch den Link zum Ranking Politische Bildung 2018. Vielen Dank Herr Hedtke, dass Sie Zeit gefunden haben bei uns vorbeizukommen.
Hedtke: Gerne, vielen Dank.
Die Aussagen der Gesprächspartner*innen repräsentieren ihre eigenen Auffassungen. Die Redaktion macht sich diese Aussagen nicht zu eigen.